Penny nahm einen tiefen Atemzug und die frische Nachtluft stach in ihrer Nase. Verrückt! Das alles war verrückt. Sie war tatsächlich soeben aus einem Notausgang der Bade GmbH ins Freie getreten. Sie hatte es Kjell zuvor nicht geglaubt - es war schließlich auch eine absurde Vorstellung, dass in Aachens größter Printenfabrik Labore und Kerker im Untergeschoss untergebracht sein sollten. Und doch war es so ...
Ihre Flucht war erstaunlich reibungslos verlaufen. Der Gang nach dem Aufzug hatte an ein paar Büroräumlichkeiten vorbeigeführt, die um diese späte Uhrzeit verlassen waren. Dann waren sie einem Wärter begegnet, doch Kjell hatte diesen mit dem Taser ausgeschaltet. Einem weiteren Trupp Wärter hatten sie ausweichen können, indem sie sich in einer Behindertentoilette versteckt hatten. Das alles war eigentlich viel zu einfach vonstatten gegangen.
Nun war sie allein. Kjell hatte darauf bestanden, dass sie sich trennten, ihr erklärt, dass man ihn würde orten können, Penny aber sicher war. Sie solle am besten bei jemandem unterkommen, dem sie vertraute - "... und das sind nicht unbedingt die, von denen Du es glaubst." Mit dieser Warnung hatte er sie alleine gelassen. Und nun? Ihr erster Instinkt war es, ihre Mutter aufzusuchen. Sicher war die schon ganz krank vor Sorge. Dann aber kamen plötzlich Zweifel, als sie bemerkte, dass die Erinnerung an ihre Mutter die letzte war, ehe sie sich in dieser Zelle befunden hatte. Was war dazwischen geschehen? Sie hatten Tee getrunken und ihre Mutter hatte sie ermuntert, sich an die Polizei zu wenden und dann hatte Penny einen Kreislaufkollaps gehabt. Hatte ihre Mutter sie ins Krankenhaus gebracht? War sie von dort vielleicht entführt worden? Oder ...
Ein nie gekanntes Misstrauen gegenüber ihrer eigenen Mutter ergriff sie, dessen sie sich nicht erwehren konnte. Penny fiel auf, dass nur sie selbst von dem Tee getrunken hatte, während ihre Mutter ihrer Schilderung der Vorfälle am Nachmittag gelauscht hatte. Es war nicht einmal so, dass ihre Mutter ihre Tasse nicht angerührt hätte, nein, sie hatte sich von vornherein nichts eingeschenkt. War sie paranoid? Vielleicht hatte sie nur keinen Tee gewollt ... doch auch wenn sie die Zweifel von sich weisen wollte, es gelang ihr nicht.
Doch wohin dann? An wen konnte sie sich wenden? "Christoph!", schoss es ihr durch den Kopf. Aber war das klug? Wenn ihre Mutter in irgendeine Art von Machenschaften verwickelt war, dann vielleicht auch ihr Onkel? Doch es war die einzige Option, die ihr einfiel. In ihre Wohnung wagte sie sich nicht zurück, denn wer auch immer letztendlich hinter all dem steckte, hatte sie schließlich von dort entführt. Und sich an die Polizei zu wenden hatte ihr zuvor schon kein Glück beschert. Somit war Christoph vielleicht ihre einzige Hoffnung. Was blieb ihr sonst übrig?
*
Nicht weit entfernt schloss Kjell die Augen, breitete die Arme aus und genoss die kalte Nachtluft. Frei! Nach so langer Zeit ...
Mithilfe des Tasers hatte er bereits sowohl den Neutralizer als auch das Ortungsimplantat kurzschließen können. Wie praktisch, dass die Kleine darauf bestanden hatte, dass er die Waffe bei sich behielt. Überhaupt, welch ein Glücksgriff: eine Kontakthypnotiseurin ausgerechnet in der Nachbarszelle und dann auch noch derart kooperativ. Er würde das berücksichtigen, wenn er ihr wieder begegnen sollte, sie hatte etwas gut. Alle anderen hingegen ...
Ein schelmisches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Nun, da er zurück war, galt es einige Dinge in Angriff zu nehmen. "Süße Träume", flüsterte er. Dann schritt er in die Nacht.
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